Offener (Leser-) Brief der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie an die DGU

In den URO News 20(5): 2016 hat Prof. Gerharz, Urologie an der Paulskirche, Frankfurt sowohl als Schriftleiter als auch als Autor seiner Meinung Ausdruck gegeben, Kinderurologie gehöre in die Hand der Urologen und sei auch nur dort zweifelsfrei richtig und gut aufgehoben. Er ruft seine eigene Fachgesellschaft auf, sich (wieder) mehr um die Kinderurologie zu kümmern, und stellt die kinderurologische Kompetenz der deutschen Kinderchirurgie pauschal in Frage.

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der DGU,

in den URO News 20(5): 2016 hat Prof. Gerharz, Urologie an der Paulskirche, Frankfurt sowohl als Schriftleiter als auch als Autor seiner Meinung Ausdruck gegeben, Kinderurologie gehöre in die Hand der Urologen und sei auch nur dort zweifelsfrei richtig und gut aufgehoben. Er ruft seine eigene Fachgesellschaft auf, sich (wieder) mehr um die Kinderurologie zu kümmern, und stellt die kinderurologische Kompetenz der deutschen Kinderchirurgie pauschal in Frage.

Die von der Bundesärztekammer zu verantwortende und vom Deutschen Ärztetag verabschiedete Musterweiterbildungsordnung ordnet die Behandlung von angeborenen oder erworbenen urologischen Fehlbildungen/Erkrankungen/ Funktionsstörungen im Kindesalter zwei operativ tätigen Fachgebieten zu: der Urologie, wie auch der Kinderchirurgie. Der Facharzt für Urologie muss im Rahmen seiner Weiterbildung keinen Kind-spezifischen Eingriff nachweisen, der Facharzt für Kinderchirurgie dagegen 50 Eingriffe aus dem kinderurologischen Bereich. Während der Urologe durch seine Ausbildung eine breite urologische Expertise nachweisen kann, hat der Kinderchirurg die breitere Erfahrung im Umgang mit kindlichem Gewebe und den sehr feinen Gewebsstrukturen aufzuweisen. Ob eines davon besser, wichtiger oder relevanter ist und ob das messbar ist, bleibt eine spekulative Frage. Es gibt hierzu natürlich keine vergleichenden Studien, sonst wären diese bereits mit großem Nachdruck als quasi schlagende Beweismittel in die Diskussion eingeführt worden.

Umso trefflicher kann man natürlich darüber streiten! Aber ist das sinnvoll? Sollte nicht diese Energie in eine gemeinsame Lösung zum Wohle der Kinder eingebracht werden? Zu einer kollegialen Diskussion gehört es aber vor allem, dass man den Partner auch zu Wort kommen lässt. So haben die unfallchirurgischen Kollegen im vergangenen Jahr zweimal auf Kongressen die Frage gestellt: ist der Unfallchirurg oder der Kinderchirurg der bessere Kindertraumatologe? Jeweils nahmen ein Unfallchirurg und ein Kinderchirurg dazu Stellung, und man diskutierte anschließend gemeinsam das Pro und Kontra. Wenn die Deutsche Gesellschaft für Urologie auf ihrer Jahrestagung schlicht die Frage stellt, ob der Kinderurologe besser als der Kinderchirurg sei, und der Referent diese Frage per se als rhetorisch bezeichnet, ist das sicher keine inhaltlich relevante Auseinandersetzung. Richtigerweise müsste die Frage so gestellt werden: Ist der Urologe oder der Kinderchirurg der bessere Kinderurologe? Damit wäre zunächst zumindest klar, dass ein Kinderurologe ein spezialisierter, auf die Kinder und ihre Erkrankungen fokussierter Kollege ist, egal welcher der beiden Fachrichtungen er entstammt. Betrachtet man die komplexen Fehlbildungen, dann bedarf es für die operative sowie für die prä- und postoperative Versorgung neben der speziellen chirurgischen Kompetenz sicher eines hohen Maßes pädiatrischer Expertise, die der Kinderchirurg in der Weiterbildung zumindest anteilig zum einen obligatorisch erwirbt und zum anderen während seiner gesamten beruflichen Tätigkeit naturgemäß täglich vertieft. Die Korrektur anorektaler Fehlbildungen z.B. ist fachlich und operationstechnisch sicher nicht mehr und nicht weniger weit von klassischen kinderurologischen Eingriffen entfernt als die Beschäftigung mit dem Prostatakarzinom. Abgesehen davon sind gerade die komplexen urogenitalen Malformationen oft mit anorektalen Fehlbildungen kombiniert, was das Erfordernis einer kinderchirurgischen Expertise für die Versorgung doppelt unterstreicht.

Die Bezeichnung „Kinderurologe" ist inhaltlich nicht geschützt. Falsch ist daher zunächst einmal die Annahme, dieses könne nur ein Urologe sein! Und das auch, wenngleich viele urologische Stellenausschreibungen im Deutschen Ärzteblatt unter der Überschrift „Klinik für Urologie und Kinderurologie" erscheinen, aber unter den Schwerpunkten der Klinik das Wort Kinder nicht mehr auftaucht. Und solange es keine festgelegten Inhalte für die Kinderurologie gibt, kann es auch keine drei habilitierten Kinderurologen geben.

„Die fehlende Weiterbildungsordnung und die völlig ungeschützten Titulaturen" sind Tatsachen, die sicherlich beide Fachgesellschaften betreffen. Seit vielen Jahren bemüht sich die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie um die Beschreibung und Festlegung entsprechender Inhalte und scheitert regelmäßig an der fehlenden Gesprächsbereitschaft der DGU. Zuletzt wurde rund um die angelaufene Novellierung der MWBO von beiden Fachgesellschaften ein Antrag auf Einrichtung einer Zusatzweiterbildung Kinderurologie eingereicht. Die Inhalte sind definitiv nicht weit voneinander entfernt, beide Fachgesellschaften wollen also eine anspruchsvolle und hochwertige Weiterbildung verankern! Auf insgesamt vier schriftliche Anfragen und Bitten um gemeinsame Beratung dieser Inhalte mit dem Ziel einer gemeinsamen Vorlage wurde von Seiten der DGU dreimal nicht einmal reagiert, einmal wurden zeitnah Terminvorschläge avisiert, aber nie vorgelegt. Ein zumindest unkollegiales und unhöfliches Vorgehen. Wo liegt eigentlich das Problem? Die DGU ist aufgefordert, ihre Forderung nach struktureller Ordnung endlich durch aktive interdisziplinäre Kooperation und Gesprächsbereitschaft zu ersetzen, um für Deutschland das zu realisieren, was die ESPU tatsächlich vorgemacht hat: vom Urologen oder vom Kinderchirurgen ausgehend spezialisiert man sich für die Kinderurologie! Europa zeigt hier einen guten Weg auf! Ob dieser dann zu einer nochmaligen Differenzierung von Basis-Kinderurologie und spezieller Kinderurologie führt wie Herr Gerharz vorschlägt, wird die weitere Entwicklung zeigen und muss in der täglichen Arbeit entschieden werden. In diesem Sinne verstehen wir auch Prof. Tekgül, der unserer Auffassung nach mehr Verbindendes als Trennendes beschreibt.

Konterkariert wird ein solches Gedankengebäude natürlich, solange eine Fachgesellschaft die andere als Fremdkörper beschreibt. Uro-Think ist den kinderurologisch-kinderchirurgischen Kollegen sicher ebenso eigen wie den Urologen, und den Knochen-Think haben eben die kindertraumatologisch-kinderchirurgischen Mitarbeiter intus und teilen ihn mit den Unfallchirurgen. Es ist in vielen großen kinderchirurgischen Kliniken in den letzten Jahren zu einer Subspezialisierung auf der Führungsebene (Chef- und Oberärzte) gekommen. Die Denke der 1970er – 1980er-Jahre ist überholt, der Kinderchirurg könne alles, hauptsächlich der Patient sei unter 14 Jahren. Beispielhaft seien hier die kinderurologisch ausgewiesenen und anerkannten Kollegen Prof. Boemers (Köln), Prof. Dietz (LMU München), Frau Prof. Eckoldt (Jena), Prof. Fuchs (Tübingen), Prof. Lorenz (Bremen), Frau PD Dr. Ludwikowski (Hannover), Dr. Schuster (Augsburg), Prof. Stehr (Nürnberg) und Prof. Tillig (Berlin) genannt, deren fachübergreifende Akzeptanz auch bereits durch enge Kooperation bei den Veranstaltungen des kinderurologischen Arbeitskreises deutlich wurde. Sind diese Kollegen Fremdkörper? Ist das die richtige Wortwahl in der kollegialen Diskussion? In diesem Zusammenhang darf durchaus festgestellt werden, dass bahnbrechende kinderurologische Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten von Kinderchirurgen wie Barry O'Donnell (Dublin; endoskopische Therapie des VUR) oder Paul Mitrofanoff (Rouen; Stoma) angestoßen wurden. Prof. Hohenfellner als allseits anerkannter kinderurologisch orientierter Ordinarius der Urologie hat kinderurologisch kompetente Kinderchirurgen aus der BRD und der ganzen Welt anerkannt wie Hardy Hendren, Pierre Mouriquand, Hermann Mildenberger oder den bei Herby Johnston ausgebildete Klaus Devens. Die wirklich kinderurologisch Aktiven in der ESPU sehen sich weder von der einen noch von der anderen Seite als Fremdkörper an. Hier findet sich vielmehr ein überschaubarer Kreis, in dem gegenseitige Wertschätzung und persönliche Freundschaft gepflegt werden.

Der konzeptionelle Anspruch eines „continuum of care" entspricht in keiner Weise der Realität der weltweiten Entwicklung und würde konsequenterweise die gesamte Pädiatrie in Frage stellen. Die spezielle und altersgerechte Kinderbetreuung geht im Rahmen einer geordneten Transition über in die Hände der Erwachsenenmedizin. Warum der Arzt, der von der Blasenekstrophie bis zum Prostatakarzinom alles betreut, die Segnung der konzeptionellen Hochleistungsmedizin mehr repräsentiert als der, der neben der Blasenekstrophie auch die Ösophagusatresie, die Analatresie und die Spina bifida betreut, erschließt sich primär nicht! Kinderorthopädie wird übergeben in die Orthopädie, die Fehlbildungen des Gastrointestinaltraktes wechseln in die Hand des Gastroenterologen, der Shuntpatient nach posthämorrhagischem Hydrozephalus wird in neurochirurgische Hände übergeben. Warum also nicht geordnete Übergabe der kinderurologischen Kinder, die als Adoleszente noch urologischer Betreuung bedürfen, im Rahmen der Transition an den Urologen? Nicht zuletzt übergeben ja auch die Kinderärzte ihre Patienten mit chronischen Erkrankungen an die Internisten. Sind sie deshalb auch „Fremdkörper" in der urologischen Denke, weil ihnen das „continuum of care" fehlt? Ist der Kindernephrologe nicht doch ein kompetenter Partner des Kinderurologen? Und wenn es internistische Kinderkompetenz auch ohne „continuum of care" geben muss und darf, warum dann nicht auch chirurgische?

„Whoever serves the patient best". Dem können wir uns vorbehaltlos anschließen. Wer das ist, entscheiden die Patienten. Ganzheitlich wahrgenommen wird das Kind aller Erfahrung nach eher in kinderspezifischen Einrichtungen durch pädiatrisch geschultes pflegerisches und ärztliches Personal als in Abteilungen der Erwachsenenmedizin. Bestes Beispiel ist hier die Spina bifida, die im Kinderzentrum kinderurologisch, kinderorthopädisch und kinder-neurochirurgisch betreut wird – ggf. sogar in einer Hand resp. in einer Abteilung.

Authentizität, Empathie, Zeit und Humor sind sicher keine genuin urologischen Eigenschaften. Kinderurologische Kompetenz ist bisher nicht definiert, könnte es aber bei beiderseitigem Willen zeitnah werden. Und vielleicht ist ja sogar mancherorts die fachübergreifende, gemeinsame Sektion ein Modell, das Kinder- und Uro-Qualifikation verbindet zum Wohle der Patienten. Sofern dieses noch das Ziel der Bemühungen ist ...

Die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie hat nie einen kinderurologischen Alleinvertretungsanspruch geäußert. Sie wünscht sich eine interdisziplinäre und kooperative Diskussion von Weiterbildungsinhalten und erforderlichen Kompetenzen für diesen Spezialbereich. Die Novellierung der Musterweiterbildungsordnung stellt immer noch die Möglichkeit dar, auf die Ebene der kollegialen Diskussion und an den Tisch sachlicher Beratungen zurückzukehren. Die Blöße, von der Bundesärztekammer hierzu gedrängt werden zu müssen, sollten wir uns nicht geben und durch Umsetzung unserer gemeinsamen Interessen ersparen.

Mit kollegialem Gruß

Prof. Dr. med. Bernd Tillig
Präsident der DGKCH

Prof. Dr. P. P. Schmittenbecher
Stellv. Präsident der DGKCH

Prof. Dr. M. Stehr
Sprecher der AG Kinderurologie der DGKCH


Die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie

Gegründet im Jahr 1963, schafft die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) bis heute Grundlagen für eine bestmögliche kinderchirurgische Versorgung in Deutschland. Dazu gehören Neugeborenenchirurgie, allgemeine Kinderchirurgie und Kindertraumatologie ebenso wie Kinderurologie. Die DGKCH vertritt das Fach in allen wissenschaftlichen, fachlichen und beruflichen Belangen. Derzeit praktizieren hierzulande Fachärzte für Kinderchirurgie in mehr als 80 kinderchirurgischen Kliniken, Abteilungen und als Niedergelassene. Kinderchirurgie gehört in die Hände von Kinderchirurgen. Denn ihre Patienten sind keine kleinen Erwachsenen.

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