Kinderchirurgen prognostizieren Pleitewelle bei Frühchen-Zentren

Berlin, Dezember 2016 – Unter der Ökonomisierung der Medizin leiden Kinderkliniken besonders. Einer Umfrage zufolge mussten rund 40 Prozent ihre Betreuungskapazitäten in 2015 wegen Personalmangels reduzieren. 

Jetzt schreibt eine neue Qualitäts-Richtlinie eine hohe Fachkraftquote für die Frühgeborenen-Versorgung vor. „Angesichts der derzeitigen Finanzierungslage ist die Umsetzung einer solchen Vorgabe vollkommen unrealistisch", erklärt Professor Dr. med. Bernd Tillig, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinderchirurgie e.V. (DGKCH). Er prognostiziert in der Folge eine ungeordnete Pleitewelle und appelliert an den Staat, diesen Konzentrationsprozess planvoll zu gestalten. „Für ein solches Strukturprojekt bieten wir der Politik unsere Expertise an", erklärte Tillig auf einer Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH).

Einrichtungen der Kindermedizin sind seit Jahren vom ökonomischen Druck in besonderer Weise betroffen – Grund ist die vergleichsweise schlechte Abbildung der erbrachten Leistungen im Krankenhaus-Finanzierungssystem DRG. „Zwar erhalten kindermedizinische Einrichtungen teilweise Zuschläge", erläutert Tillig, Direktor der Klinik für Kinderchirurgie am Vivantes Klinikum Neukölln in Berlin. Aber sie reichen nicht aus, um die Zusatzkosten zu decken. „Wir nehmen ja häufig auch Eltern in die Klinik mit auf, benötigen neben speziellem technischem Equipment auch kindergerechte
Ausstattung und Kinderbetreuung", zählt der Kinderchirurg einige der kostenintensiven Extraposten auf. Um die Deckungslücken zu schließen, sparen Klinikleitungen ganz überwiegend am Personal. Eine bundesweite Umfrage des Verbandes Leitender Kinder- und Jugendärzte und Kinderchirurgen (VLKKD) ergab, dass in 2015 rund 40 Prozent der Kinderkliniken ihre Bettenkapazität reduzieren mussten, zu 95 Prozent wegen Personalmangels insbesondere in der Pflege. Aber die Einsparungen treffen auch den ärztlichen Bereich.

„Kinderchirurgen können aufgrund zu geringer Personalkapazität häufig keine 24-Stunden-Dienste mehr vorhalten", berichtet Tillig. Frisch operierte und verletzte Kinder werden dann von anderen Kinderärzten mit betreut, der Kinderchirurg nur noch bei Bedarf in die Klinik gerufen. Auch Rettungsstellen halten oft keine Kinderchirurgen mehr vor, so dass die jungen Patienten von Ärzten anderer Fachrichtungen behandelt werden müssen. „Die Mehrzahl der Kinderkliniken und kinderchirurgischen Einrichtungen arbeiten bereits defizitär", so der DGKCH-Präsident.
Mit der Qualitätssicherungs-Richtlinie zur Frühgeborenen-Versorgung, die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) auf den Weg gebracht wurde und im Januar 2017 verbindlich in Kraft treten soll, verschärft sich die Situation erheblich. Denn das neue Gesetz schreibt eine hohe Fachkraftquote für die neonatologische Intensivpflege sowie einen strikten Personalschlüssel für die Frühgeborenen-Versorgung vor – ohne ausreichende Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Laut einer aktuellen Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts können derzeit nur gut ein Viertel der Perinatalzentren diese Anforderungen erfüllen.

Um die Personalvorgaben der Richtlinie vollumfänglich umsetzen zu können, ist bundesweit von einem personellen und finanziellen Mehrbedarf von bis zu 1.750 Vollkräften – das entspricht einem Plus von 28 Prozent gegenüber dem derzeitigen Stand – beziehungsweise von mehr als 100 Millionen Euro auszugehen.. „Diese Anforderungen sind nicht zu schaffen, es werden in der Konsequenz Perinatalzentren untergehen", prognostiziert Tillig. „Eine solche Marktbereinigung wird offenbar in einigen medizinischen Bereichen politisch bewusst in Kauf genommen, um Überkapazitäten abzubauen." Damit werde jedoch ein gefährlicher Weg beschritten, warnt Tillig. „Bei einer Marktbereinigung nach rein ökonomischen Kriterien bleiben schnell Qualität und Versorgungsaspekte auf der Strecke." Ein Konzentrationsprozess sollte in der Medizin nicht den Gesetzen der Marktwirtschaft und Zufällen überlassen bleiben, sondern anhand von klar definierten Kriterien strukturiert erfolgen – ähnlich wie es in der Transplantationsmedizin der Fall war. „Der Rückbau von Kapazitäten gehört in die Hände des Staates, er muss im Bereich der Gesundheit seiner Fürsorgepflicht gerecht werden", betont der Kinderchirurg. Die DGKCH biete der Politik daher ihre Expertise und Unterstützung für ein transparent aufgesetztes Strukturprojekt zur bedarfsgerechten Neustrukturierung der konservativen und operativen Kinder- und Jugendmedizin sowie der Frühgeborenen-Medizin an. „Aus unserer Sicht sollte sich eine Neuordnung primär an der Versorgungsnotwendigkeit ausrichten", so Tillig. „Dafür brauchen wir transparent hergeleitete Kriterien für eine Versorgungsplanung, die unter anderem Einwohnerzahl, Behandlungsmöglichkeiten, Fallzahlen, Erreichbarkeit und medizinische Qualität der Einrichtungen berücksichtigen und entsprechend gewichten."

Die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie

Gegründet im Jahr 1963, schafft die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) bis heute Grundlagen für eine bestmögliche kinderchirurgische Versorgung in Deutschland. Dazu gehören Neugeborenenchirurgie, allgemeine Kinderchirurgie und Kindertraumatologie ebenso wie Kinderurologie. Die DGKCH vertritt das Fach in allen wissenschaftlichen, fachlichen und beruflichen Belangen. Derzeit praktizieren hierzulande Fachärzte für Kinderchirurgie in mehr als 80 kinderchirurgischen Kliniken, Abteilungen und als Niedergelassene. Kinderchirurgie gehört in die Hände von Kinderchirurgen. Denn ihre Patienten sind keine kleinen Erwachsenen. 

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