Die Transition Kinderchirurgischer Patienten in die Erwachsenenmedizin – eine interdisziplinäre Herausforderung

Berlin, Februar 2017 – Die Kinderchirurgie bietet eine ganzheitliche Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit angeborenen Fehlbildungen oder nach Traumafolgen an, die auch die Transition, d.h. die geordnete Überleitung von der Kinder- und Jugend- in die Erwachsenenmedizin beinhaltet.

Dank der hohen Spezialisierung sowohl der Kinderchirurgischen Abteilungen als auch unserer Partner in den Abteilungen für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin, überleben heutzutage die meisten Kinder mit angeborenen Fehlbildungen und auch solche mit schweren Entwicklungsstörungen oder nach Verkehrs- oder Verbrennungsunfällen. Diese Kinder werden von uns bis ins Jugend- und junge Erwachsenenalter begleitet und medizinisch betreut.

In der Kinderchirurgie wird unter Berücksichtigung der Wachstums- und Entwicklungstypischen Veränderungen des kindlichen Organismus die Diagnostik, das präoperative, operative und postoperative Management entsprechend dem Entwicklungsstand des Kindes angepasst und berücksichtigt. Neben der körperlichen Veränderung im Verlauf des Wachstums kommen die unterschiedlichen Stufen der psychosozialen Entwicklung hinzu, die Entwicklung der sexuellen Identität, die Pubertät und die Adoleszenz, die bei der Planung der Therapie Beachtung finden müssen. (1)

Die Transition dieser Jugendlichen ist dann ein letzter, aber elementarer Bestandteil der langjährigen Verantwortung gegenüber unseren Patienten. Mit der Volljährigkeit fordern die Kostenträger die Weiterbehandlung durch die Erwachsenenmediziner. Wenn der geplante Übergang von der Jugend- in die Erwachsenenmedizin misslingt, kann dies sowohl unter individuellen als auch unter sozialökonomischen Aspekten zu weitreichenden Konsequenzen führen: Kommen die jungen Erwachsenen – nach dem letzten Besuch beim Kinderarzt oder Kinderchirurgen – erst nach Jahren in eine Erwachsenenpraxis oder –ambulanz, sind die gesundheitlichen Probleme oft weit fortgeschritten. Das bedeutet für das Individuum eine verminderte Lebensqualität und letztendlich im Verlauf oft einen erhöhten Behandlungsmehraufwand. Und es hat für die Gesellschaft vor allem auch durch erhöhte Behandlungskosten eine ökonomische und gesundheitspolitische Relevanz.

Beispielsweise kann es bei Patienten mit Spina bifida und Hydrocephalus (angeborener offener Rücken mit Abflußstörung des Hirnwassers, Wasserkopf) , die sowohl eine gestörte Harnblasenfunktion als auch mehr oder weniger ausgeprägte Symptome einer Querschnitsslähmung haben, zu gravierenden Nierenfunktionsstörungen bis hin zum Nierenversagen kommen, wenn die Nierenfunktion und die Blasenentleerung nicht regelmäßig überprüft werden und die Therapie angepasst werden kann. Außerdem sind sie in den meisten Fällen lebenslang auf eine Ventilgesteuerte Ableitung des Hirnwassers angewiesen. Wenn es hier zu unerkannten Fehlfunktionen der Hirnwasserableitung (Shunt) kommt, resultieren psychische und physische Einschränkungen bis hin zu Koma und Tod. Langwierige Therapien und Rehamaßnahmen können notwendig werden. Eine frühzeitig eingeleitete und durchgängige spezialisierte Mitbehandlung durch geeignete Erwachsenenmediziner kann diese Komplikationen verhindern.

Experten schätzen, dass etwa 14 % (2) der Jugendlichen eines Jahrgangs in Deutschland an einer chronischen Krankheit leiden, die eine lebenslange ärztliche Behandlung erfordert. Da diese Gruppe aber aufgrund der verschiedenen Krankheitsursachen (innere Erkrankungen, angeborene Fehlbildungen, Verletzungsfolgen) sehr inhomogen ist, gibt es in Deutschland nach wie vor keine standardisierten Transitionsprozesse, die alle benötigten Fachdisziplinen einbeziehen und die vor allem von den Kostenträgern berücksichtigt und vergütet werden. Bestenfalls gibt es individuelle, sonderfinanzierte Transitionsprogramme (3), die ganz überwiegend aber Patienten aus der Kinder- und Jugendmedizin betreffen und nicht solche mit chirurgischen Erkrankungen.
Auch die kinderchirurgischen Patienten, die in die Erwachsenenmedizin übergeleitet werden müssen, bilden eine sehr heterogene Gruppe mit jeweils eher kleinen Fallzahlen, was die Möglichkeit einer Spezialisierung der weiterbehandelnden Erwachsenenmediziner zusätzlich erschwert. Unter den Patientengruppen mit angeborenen Fehlbildungen, die eine lebenslange spezialisierte medizinische Nachsorgen benötigen sind die folgenden Diagnosen besonders hervorzuheben:

  • Spina Bifida (offener Rücken): ca. 700/Jahr. Langzeitprobleme Blasen- und Mastdarmentleerungsstörung, Niereninsuffizienz, Skelettverformungen, Skoliose, chronischer Über- oder Unterdruck im Gehirn mit neurologischen Störungen. Daraus resultieren wiederholte Operationen. Transitionsbedarf 100%.
  • Ösophagusatresie (Speiseröhrenverschluß): ca. 200/Jahr. Langzeitprobleme Schluckstörungen, chronische Atemwegsinfekte, Säurereflux aus dem Magen, Speiseröhrenkrebs, Wirbelsäulenfehlstellung mit chronischen Rückenschmerzen (Skoliose). Transitionsbedarf 100%
  • Analatresie (Enddarm-/Darmausgangverschluß) : 280-300/Jahr. Langzeitprobleme chronische Obstipation, chronische Darmentzündung, Stuhlinkontinenz (Überlaufenkopresis), gynäkologische Probleme, urologische Probleme, Sexualstörungen, orthopädische Probleme. Transitionsbedarf 100% ( derzeit ca 10.000 Patienten in Deutschland).
  • Gallengangatresie ( Gallengangverschluß) : 35-38/Jahr (Überleben ca. 90%). Davon benötigen 70%-80% eine Lebertransplantation. Chronische Lebererkrankung. Transitionsbedarf 100%.
  • Schwere thermische Verletzungen die in einer Spezialklinik versorgt werden müssen: ca 6.000/Jahr. Langzeitprobleme Kontrakturen, Bewegungseinschränkung, psychische Probleme. Transitionsbedarf ca. 20%

Die Transition kinderchirurgischer Patienten tritt erst seit 5 Jahren, mit Gründung der Deutschen Gesellschaft für Transitionsmedizin, immer mehr in den Fokus der Fachgesellschaften (4).
Als Kinderchirurgen sehen wir uns ganz besonders in der Verantwortung und der Sorge um die Patienten mit angeborenen Fehlbildungen und Verletzungsfolgen, die dank unseres Zutuns das Erwachsenenalter erreicht haben und bei denen aber mit Erreichen des 18. Lebensjahres der Bedarf nach einer fach- und sachgerechten Nachsorge nicht aufhört. Wir tragen auch die Verantwortung dafür, mit den nachbehandelnden Kollegen der Erwachsenenmedizin der unterschiedlichen chirurgischen Disziplinen zu kooperieren und unser Wissen um die Besonderheiten dieser speziellen Krankheitsbilder weiterzugeben und letztendlich unseren Patienten auch jenseits der Volljährigkeit mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Der diesjährige 134. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, der unter dem Motto VERANTWORTUNG, VERTRAUEN, SICHERHEIT steht, geht erstmals in mehreren interdisziplinären Sitzungen mit anderen chirurgischen Fachgesellschaften speziell auf das Thema der Transition ein. So diskutieren wir und Mitglieder von Selbsthilfegruppen gemeinsam mit den Kollegen der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) über die angeborenen Fehlbildungen der Speiseröhre (Öeophagusatresie), der Gallenwege (z.B. Gallengangatresie), des End- und Dickdarmes (z.B. Analatresie) und über deren besonderen lebenslangen Versorgungsbedarf auch nach der Überleitung in die Erwachsenenmedizin. Mit den Kollegen der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC) stellen wir die Besonderheiten des kindlichen Hydrocephalus (Wasserkopf) und dessen Behandlung aus Kinderchirurgischer und Neurochirurgischer Sicht dar sowie die Komplexizität und die damit verbundenen Hürden der Überleitung von Kindern mit Spina bifida in die Erwachsenenmedizin. In einer gemeinsamen Sitzung mit den Kollegen der Deutschen Gesellschaft für Plastische, Rekonstruktive und Ästhetische Chirurgie (DGPRÄC) und der Deutschen Gesellschaft für Verbrennungsmedizin (DGV) stellen wir Kooperationsmodelle zwischen Zentren für schwerbrandverletzte Kinder und für Erwachsene vor und diskutieren die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit lebenslangem Behandlungsbedarf nach schweren Verbrennungen.

Literatur

  1. Tillig B. Steckbrief: Kinderchirurgie. Passion Chirurgie. 2017 Januar, 7(01): Artikel 03_01.

  2. C. Scheidt-Nave, U. Ellert, U. Thyen, M. Schlaud: Prävalenz und Charakteristika von Kindern und Jugendlichen mit speziellem Versorgungsbedarf im Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) in Deutschland. In: Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung und Gesundheitsschutz. 50, 2007, S. 750–756 doi:10.1007/s00103-007-0237-3)

  3. Jana Findorff, Silvia Müther, Arpad von Moers, Hans-Dieter Nolting, Walter Burger: Das Berliner Transitionsprogramm. De Gruyter ISBN 978-3-11-044035-5

  4. Homepage: www.transitionsmedizin.de

Die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie

Gegründet im Jahr 1963, schafft die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) bis heute Grundlagen für eine bestmögliche kinderchirurgische Versorgung in Deutschland. Dazu gehören Neugeborenenchirurgie, allgemeine Kinderchirurgie und Kindertraumatologie ebenso wie Kinderurologie. Die DGKCH vertritt das Fach in allen wissenschaftlichen, fachlichen und beruflichen Belangen. Derzeit praktizieren hierzulande Fachärzte für Kinderchirurgie in mehr als 80 kinderchirurgischen Kliniken, Abteilungen und als Niedergelassene. Kinderchirurgie gehört in die Hände von Kinderchirurgen. Denn ihre Patienten sind keine kleinen Erwachsenen. 

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