80 Jahre Dr. Ermert, Ehrenmitglied der DGKCH

 

Symposium – 45 Jahre Spina bifida in Mainz – Rückblicke – Einblicke – Ausblicke –

80 Jahre Dr. Ermert

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Sie hier in so großer Zahl zusammengekommen sind.

Ich möchte Ihnen danken, weil Sie alle sich für Menschen mit Spina bifida engagieren. Sie machen allen Mut, die in den letzten Jahren zunehmend den Eindruck bekamen, dass dieses Thema heute nicht mehr auf der Tagesordnung der wissenschaftlichen und politischen Diskussion steht.

Gleichzeitig macht uns das Thema dieses Symposiums auf einen besonderen Aspekt unserer Tagung aufmerksam. Denn selbstverständlich gibt es Spina bifida in Mainz und in Mainzer Kliniken schon länger als 45 Jahre. Aber 45 Jahre lang hat der unermüdliche Einsatz eines Mannes dafür gesorgt, dass gerade in Mainz sich viele Menschen mit Spina befasst haben – auf der ärztlicen und therapeutischen Seite aber vor allem auch in der Eltern-Selbsthilfe. Inzwischen ist dieses Eltern-Projekt erwachsen geworden und zu einer gemeinsamen Selbsthilfe der Menschen mit Spina bifida und der Angehörigen geworden.

Und der Initiator all dessen, der Wegbereiter dieser Entwicklung ist 80 Jahre geworden. Er blickt zurück auf eine ungeheure, kaum hoch genug einzuschätzende Lebensleistung. Ohne ihn wären wir alle nicht hier, denn vermutlich gäbe es ohne ihn keine Arque, kein KINZ und keinen Spina bifida Schwerpunkt an der Uni Mainz.

Deswegen ist es ein wichtiger Anlass und eine Herzensangelegenheit heute besonders herzlich zu begrüßen unseren hochverehrten Dr. med. Johann August Ermert, Pädiater in Mainz. Seiner pädiatrischen Praxis ist Zeit seines Berufslebens treu geblieben, weil er nirgendwo sonst hätte mehr Nähe haben können zu den Menschen, denen er zutiefst verbunden ist. Es ist nicht zufällig, dass er in seiner Praxis den größten Patientenstamm an Kindern und Jugendlichen mit Spina bifida betreute, mehr als irgendeine Klinik. Er war Eltern und Kindern der verlässliche Partner, der Mensch, der Zeit hatte, der zuhörte, mit dem man sprechen konnte, dem keine Frage lästig war, der keine Frage unbeantwortet ließ. Er war ein Freund. Sie kamen zu ihm nicht in erster Linie als zu einem Arzt, sondern sie kamen einfach gern, weil sie ihn wiedersehen und Freundschaft bestärken wollten. Der kompetente medizinische Rat und die ärztliche Behandlung ergaben sich als Dreingabe. Die Eltern waren für ihn die wichtigsten Therapeuten. Er lernte von ihnen und schuf den Typ der mündigen Eltern, die nach einer Eingewöhnungsphase selbstverständlich mit dem Arzt diskutieren zum Wohle des behandelten Kindes.

Und Dr. Ermert weiß einfach Bescheid in allem, was mit Spina bifida zu tun hat. Und weil es kaum ein medizinisches Fachgebiet gibt, das nicht mit Spina bifida zu tun hat, hatte er sich auf allen Gebieten das notwendige Wissen und viel Wissen darüber hinaus angeeignet. Und vor allem hatte er sich diszipliniert, dies mit Eltern und Betroffenen in einer für alle verständlichen Sprache zu diskutieren.

Aber ich muss noch einmal zu den Anfängen zurückkommen. Schon während seiner Ausbildung an der Uniklinik Mainz lernte Dr. Ermert das Elend der kleinen Menschen mit Spina bifida und Hydrocephalus kennen. Zum Glück war dies auch die Zeit, in der die Spitz-Holter Ventile zur Regulierung des Hirndrucks auf dem Markt erschienen. Aber bis weit in die siebziger Jahre herrschte eine kaum glaubliche Unkenntnis der neuen Behandlungsmöglichkeiten. Jahrelang musste Dr. Ermert einen großen Teil seiner Energien investieren, Ärztekollegen davon zu überzeugen, dass Menschen mit Spina bifida eine Überlebenschance verdient haben. Er sagte einmal, er sei sich bisweilen vorgekommen wie der billige Jakob auf dem Jahrmarkt, der seine Botschaft gar nicht laut genug in die Welt hinaus posaunen konnte. Um die Veränderung der Einstellung zu Menschen mit Spina bifida hat er sich sehr verdient gemacht.

Er war sich nicht zu schade, solche Basisarbeit zu leisten. Er kämpfte um das Überleben der Menschen mit Spina bifida und um eine kontinuierliche Verbesserung der Lebensqualität, in vielen kleinen und großen Schritten und jeden Tag neu im Alltag seiner Praxis. Aber er versteckte sich nicht in seiner Praxis. Er hielt Kontakt zu den Ärzten, zu denen er seine Patienten wegen zusätzlicher Hilfe schicken musste. Er förderte das fachübergreifende Gespräch der behandelnden Ärzte. Er legte die Grundlagen für eine Mainzer Spina bifida Sprechstunde.

Er versuchte für seine Patienten das Beste zu erreichen. Und viel mehr: weil er immer den Überblick behielt, kamen viele Anstöße zur Verbesserung von Therapien, viele Überlegungen zu übersehenen Problemen von ihm. Auf unseren medizinisch-wissenschaftlichen Fachtagungen des Beirates der ASBH lenkte er immer wieder den Blick auf die Alltagsprobleme der Menschen mit Spina bifida, auf die großen sozialmedizinischen Problemfelder. Er kannte seine Patienten mit allen ihren Lebensbezügen. Er wusste von den Schwierigkeiten, die durch Übertherapieren entstanden. Und er freute sich mit seinen Patienten über jeden Erfolg.

Er hat sich ein geradezu unwahrscheinliches Fachwissen in der gesamten Bandbreite der Therapie und der Lebensbewältigung von Menschen mit Spina bifida geschaffen. Es dürfte bekannt sein, dass er vor einigen Jahren ein Nachschlagwerk „Spina bifida und Hydrozephalus von A bis Z – Ein Schlüssel zum besseren Verständnis“ herausgebracht hat, bis heute das weltweite Standardwerk. (einige Exemplare sind noch bei der ASBH-Stiftung erhältlich). Mich hat es überwältigt zu erleben, wie alles, was er dort geschrieben hat, wirklich sein eigenes Wissen wiedergibt. Das kann er diskutieren, das kann differenzieren, das kann er in anderem Zusammenhang neu analysieren. Dieses ganze Wissen ist wirklich verinnerlicht und verarbeitet. Er ist in seiner Person ein Kompetenzzentrum in Sachen Spina bifida. Neben seiner menschlichen Größe, die ich lange kannte, habe ich durch dieses Lexikon gelernt, seine Größe als Wissenschaftler recht zu würdigen.

Er ist zwar 80, aber er ist noch lange nicht am Ziel seiner Wirksamkeit. Nachdem er seine Praxis aufgegeben hatte, hat er neue Freiräume genutzt, sein Wissen weiterzugeben. Und für ihn bezeichnend ist, dass es ihm dabei vor allem um die persönlich betroffenen Menschen mit Spina bifida, um die Angehörigen, um die Menschen, die sie begleiten geht. Aber auch seine wissenschaftliche Arbeit geht weiter. Ich weiß, dass eine große Arbeit über urologische Fragen in Vorbereitung ist, an der er wiederum verantwortlich mitarbeitet. Und wer ihn kennt freut sich voller Spannung auf dieses neue Buch.

Ein Mann, der auf ein solches Lebenswerk zurückblickt, hat natürlich viele Menschen um sich herum, die seine Arbeit stützen und umsetzen. Und ich bin sicher, dass August Ermert ein solches Lebenswerk nicht hätte schaffen können ohne die Unterstützung seiner Familie. Ein ganz besonderer Dank gebührt seiner Frau, die ihm zur Seite stand und ihm immer neue Kraft gegeben hat. Sie hat zurückstecken müssen für die große Aufgabe ihres Mannes, aber sie hat die Aufgabe gesehen und trägt eben großen Anteil an dem, was ihr Mann für die Menschen mit Spina bifida geleistet hat. Aber auch die fünf Kinder haben manches Mal auf den Vater verzichten müssen, den sie sicher lieber für sich gehabt hätten, als ihnen mit den Vielen zu teilen, die Hilfe von ihrem Vater erwarteten. Aber auch die Kinder haben ihren Anteil an der Spina bifida – Arbeit. Schon früh haben sie z.B. bei Eltern-Tagungen die Kinderbetreuung übernommen. Und wir möchten an diesem Tag ausdrücklich diese Mitarbeit der ganzen Familie würdigen.

Inzwischen gibt es neben den fünf Kindern auch sieben Enkel. Und es war in den letzten Jahren schön, wenn ich August anrief und er sagte: Ich habe gerade einen Enkel auf dem Schoß, - oder: Neben mir wartet ein Enkel, mit dem ich weiterbasteln soll. Es ist schön, dass der Un-Ruhestand August Zeit lässt für seine Enkel.

Ein Thema hat uns bei unseren letzten Kontakten immer wieder beschäftigt. Wir haben uns über die Jahrzehnte immer für das Lebensrecht der Ungeborenen mit vorgeburtlicher Spina bifida Diagnose eingesetzt. Vor Jahren hatten wir das Gefühl auf einem guten Weg zu sein. Heute werden immer weniger Kinder mit Spina bifida geboren. Warum dürfen diese Kinder nicht leben, denen mit dem Fortschritt und der Arbeit von Dr. August Ermert so viel bessere Zukunftsaussichten beschert werden. Wir kennen hervorragende Erwachsene, liebenswürdige Menschen mit Spina bifida, die heute keine Chance hätten, geboren zu werden. Wir kennen die Eltern, die sich gegen die Schwangerschaftsunterbrechung entschieden haben, und denen absolut gesunde Kinder geboren wurden. Wir wagen es, Fragezeichen zu machen hinter die pränatalen Untersuchungen, und sind der Meinung, wir sollten jedem kleinen Menschen mit aller ärztlichen Kunst und liebevollen Begleitung die Lebenszeit ermöglichen, die Gott ihm schenkt.

Lieber August, wir haben auch über Musik gesprochen. Ich weiß, Du liebst Musik und Du liebst Johann Sebastian Bach. Ich wurde vor kurzem noch einmal auf die 147. Kantate aufmerksam und nicht nur die beiden Strophen mit Volksliedcharakter, sondern auf den Anfangsvers und die Eingangszeile. Herz und Mund und Tat und Leben – und bei den Vorüberlegungen zu diesem Tage wurde mir diese Worte zu einer Überschrift, zu einem, Motto für Dein Leben als Arzt: Du bist Deinen Beruf als Berufung, mit dem Herzen angegangen. Die Patienten lagen Dir wirklich am Herzen. Und Du hast Deinen Mund eingesetzt, die Meinung Deines Herzens weiterzugeben, die Menschen Deine Freundlichkeit spüren zu lassen, sie mit Deinen Worten zu trösten und zu beraten und ihnen Wege zu zeigen, die in die Zukunft führen. Aber Du hast es nicht bei Worten belassen. Du warst glaubwürdig und vertrauenswürdig, weil den Worten Taten folgten, die für die Menschen das Leben zum Positiven veränderten. Und daraus ist Dein Leben gewachsen, Dein Leben, das für uns Vorbild ist und von dem wir uns für uns selbst, aber auch für die Menschen mit Spina bifida noch viel erhoffen. Darum möchte ich Dir die neueste Aufnahme der Bachkantate als Erinnerung an diesen Tag überreichen.

Und ich persönlich hoffe darauf, dass wir noch viele Jahre im Rahmen der ASBH-Stiftung zusammenarbeiten dürfen.

Herzlichen Dank und Gott befohlen!

Klaus Seidenstücker, Vorsitzender der ASBH-Stiftung