Ilse Krause, eine außergewöhnliche Persönlichkeit der Kinderchirurgie, zum 100. Geburtstag

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Am 18. August dieses Jahres wäre Dr. sc. med. Ilse Krause 100 Jahre alt geworden. Ehemalige Schüler und Mitarbeiter nehmen den Tag zum Anlass, der Wegbereiterin der Kinderchirurgie mit Ehrerbietung und in Dankbarkeit zu gedenken.

 „Zahlen an sich bedeuten nichts. Aber hinter den Zahlen stehen Kinder, kranke Kinder. Auch wegen eines einzigen Schicksals, das wir günstig beeinflussen konnten, also um ein einziges Menschenleben willen, haben sich die zehn Jahre gelohnt.“

Worte, mit denen Ilse Krause die Teilnehmer des Symposions anlässlich des zehnjährigen Bestehens der Kinderchirurgischen Klinik im Klinikum Berlin-Buch, am 3. Dezember 1966, menschlich tief berührte.  

Ein prägendes Vorbild

Was hätte Ilse Krause uns heute zu sagen? Kämpft für die Kinderchirurgie, wie ich es tat!

Sucht man nach Anfängen dessen, was Fritz Rehbein (1911-1991, Bremen) als das eigentliche Neuland der Kinderchirurgie bezeichnete, aber als Entität mit heutiger Gestaltungskompetenz noch nicht vorhanden war, so führt eine Spur in Deutschland zu der damaligen jungen Chirurgin Dr. Ilse Krause. Evangelisch-protestantisch geprägt, entsprach sie keineswegs den zeitgenössischen Vorstellungen staatlicher Obrigkeit, der sie unterstand. Sie, die Politik als moralischen Gradmesser verstand, galt als unbequem. Sie war geradlinig, mutig und eine leidenschaftliche Kämpferin für die Kinderchirurgie, die nicht buckelte. Waldemar Hecker (1922-2008, München) würdigte die erste Kinderchirurgin Deutschlands als „Marschallin der Medizin, die nicht herrschte, sondern diente“.

Obwohl seit dem 18. Jahrhundert die Chirurgen Karl Joseph Oehme (1752-1783, Dresden), Robert Hermann Tillmanns (1844-1927, Leipzig), Ferdinand Karewski (1858-1923, Jüdisches Krankenhaus Berlin), sich der Kinderchirurgie bereits gewidmet hatten,  Erwin Gohrbandt (1890-1965, Berlin) 1928 und Richard Drachter (1883-1936, München) 1930 weltweit die ersten kinderchirurgischen Lehrbücher herausgegeben hatten, war bis Anfang der 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts eine selbständige Kinderchirurgie in Deutschland nicht denkbar. 1958 wurde der Facharzt für Kinderchirurgie in der DDR und 1992 in der BRD eingeführt. Dass Kinder von Geburt an den für sie kompetenten Chirurgen brauchen, war nur allmählich akzeptiert worden.

Medizinhistorisch wird verstanden, dass die Entwicklung der Kinderchirurgie in Europa erst nach dem Zweiten Weltkrieg (1939-1945) ihren Anfang hat nehmen können. Sicherlich trifft das für Deutschland zu. Zu den Protagonisten dieser Entwicklung gehört Ilse Krause (1917-1984, Berlin-Buch). 

Werdegang

Am 14.08.1917 in Graudenz (Westpreußen) geboren, ging Ilse Krause in Berlin zur Schule und legte 1937 an der Agnes-Miegel-Schule in Berlin-Neukölln das Abitur ab. Wie im Dritten Reich Pflicht, hatte sie zunächst ihre Arbeitsdienstzeit zu absolvieren. 1938 begann sie mit dem Medizinstudium an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin (seit Februar 1946 Humboldt-Universität), setzte es an der Philipps-Universität Marburg fort, legte dort am 25.06.1943 das Staatsexamen ab und promovierte im gleichen Jahr. Mitten im II. Weltkrieg begann die 26-jährige ihre ärztliche Tätigkeit im Krankenhaus in Finsterwalde/Lausitz. Doch bald verschlug es sie als notdienstverpflichtete junge Ärztin in das 30 Km entfernte Luckau, wo sie mit den Gefährdungen des Krieges zu leben hatte und bei der Versorgung Kriegsgefangener eines Lazaretts eine der schrecklichsten Auswirkungen des Krieges kennen lernte. Spätere Stationen ihres Berufsweges waren Krankenhäuser in Neuruppin/Mark und in Luckenwalde bei Berlin. 1949 erwarb sie die Anerkennung als Fachärztin für Chirurgie und ging 1952 nach Berlin, ins Krankenhaus im Friedrichshain zu Professor Heinrich Klose (1879-1968), Direktor der dortigen Chirurgischen Klinik. 

Weg zur Selbständigkeit

Maßgeblich für die berufliche Zukunft von Ilse Krause wurde ein Kinderarzt. Es war der Chefarzt der Kinderklinik im Städtischen Hufeland-Krankenhaus in Berlin-Buch, Prof. Dr. Heinrich Robert Kirchmair (1906-1969). Er war 1956 von einem längeren Aufenthalt aus Bagdad mit der Idee zurückgekehrt, in Berlin eine kinderchirurgische Klinik ins Leben zu rufen. Darüber sprach er mit dem Leiter der Abteilung für Gesundheitswesen beim Magistrat von Groß-Berlin, der sich an Prof. Klose wandte. Dem gefiel die Idee, die er unmittelbar in die Tat umsetzte, indem er seiner Oberärztin Dr. Ilse Krause nahelegte, den in der Kindermedizin neuen Weg zu gehen. Ihn trat die 39-Jährige am 1. Juni 1956 an und begründete am 10. Dezember 1956 unter wirtschaftlich schwierigen Voraussetzungen und weltanschaulich gespaltener Menschheit in Ost und West, die Kinderchirurgische Klinik im Städtischen Hufeland-Krankenhaus Berlin-Buch -  ihr Lebenswerk. 

Anfang und Aufstieg

Beides begann mit drei Betten, zwei Ärztinnen, drei Schwestern Ilse Krause  besuchte kinderchirurgische Einrichtungen in anderen Städten Europas, was bis zum Mauerbau am 13. August 1961 noch möglich war. Dadurch erhielt sie Einblicke in das Betätigungsfeld des Faches und lernte kinderchirurgische Persönlichkeiten kennen, wie Fritz Rehbein, mit denen sie einen wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch pflegte.

Die Bettenkapazität stieg auf 133, die Anzahl ärztlicher Mitarbeiter zeitweise auf 25, der Bedarf wuchs. Ihre fachliche Kompetenz verlieh ihr große Autorität und Glaubwürdigkeit sowie Vertrauen, auch bei staatlicher Prominenz. Ilse Krause operierte den Sohn des Oppositionellen Prof. Dr. Robert Havemann (1910-1982), den Enkel des damaligen Ministerpräsidenten Willi Stoph (1914-1999), die Tochter Erich Honeckers (1912-1994) aus erster Ehe mit Edith Baumann (1909-1973) und nicht zuletzt war sie geschätzte Konsiliarin im Regierungskrankenhaus. Als Chirurgin wurde sie von Anna Seghers (1900-1983) konsultiert.

Die Klinik wurde von Ilse Krause bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand 1978 aufgebaut, gestaltet und mit Energie geleitet. Von ihr gingen  - sozusagen aus dem ersten kinderchirurgischen Zentrum, der Leitklinik im nicht universitären Bereich – entscheidende Impulse für die Entwicklung unseres Fachgebiets aus. Ihre Pioniertaten sind etabliert und liegen ein halbes Jahrhundert zurück: Die von ihr eingeführten offenen Besuchszeiten für Eltern, damals ein wahrlich revolutionierender Schritt zur Aufrechterhaltung der Mutter-Kind-Bindung, die 1966 in Deutschland erstmals begonnenen geplanten ambulanten Operationen bei Kindern (die Engländerin Gertrud Herzfeld tat das bereits 1938), die am 1. April 1969 innerhalb der kinderchirurgischen Wachstation gegründete erste Kinder-Intensiv-Therapie-Station (Kinder-ITS) der DDR, nur acht Tage nach einer solchen in Mainz und nicht zuletzt die in der Charité eingeführten systematischen Vorlesungen über Kinderchirurgie. 

Wissenschaftliche und gesundheitspolitische Impulse

Neben der klinischen Alltagsarbeit war Ilse Krause unermüdlich und erfolgreich bestrebt, die sich ständig ergebenden Fragestellungen des Fachgebietes in Angriff zu nehmen und zu ihrer Klärung beizutragen. Daraus resultierten zahlreiche Vorträge und Publikationen, auch zur Anleitung und Heranbildung von kinderchirurgischen Schwestern. Gleichzeitig bemühte sie sich berufspolitisch, der Kinderchirurgie den ihr zukommenden Platz zu erobern. Sie stand vor 60 Jahren – und das als Nichthochschullehrer! – in vorderster Linie der Kämpfer für die auf dem Gebiet der damaligen DDR letztlich erfolgreiche Etablierung des Faches Kinderchirurgie mit seinen Subdisziplinen als dem natürlichen Partner der Kinderheilkunde. Sie war 1964 Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft Kinderchirurgie, von 1971-1972 Vorsitzende der Sektion und war ständiges Mitglied der Fachkommission bei der Akademie für ärztliche Fortbildung der DDR. Im Zusammenwirken aller war sie eine Säule für die 1985 gegründete Gesellschaft für Kinderchirurgie der DDR. Sie saß im Beirat der Berliner Chirurgischen Gesellschaft und war 1974-1978 deren Schatzmeister. 

Ehrungen und bleibende Vorbildwirkung

Äußere Ehrungen wurden ihr durch die Ehrenmitgliedschaften der Ungarischen und der Tschechischen Gesellschaft für Kinderchirurgie, mit der Verleihung der Titel Medizinalrätin und „Verdiente Ärztin des Volkes„ für großartige Leistungen auf dem Gebiet der Kindermedizin, zuteil. Abgerundet wurde die Persönlichkeit der nimmermüden Ärztin und Wissenschaftlerin durch die Habilitation.

Ilse Krause war eine Arztpersönlichkeit, die lehrte, forderte und förderte, aus ihrer Schule gingen Chefärzte und Professoren hervor, ihre fachliche Ausstrahlung und menschliche Zuwendung trugen ihr nicht nur als unsere Chefin den Namen „Mutter Krause“ ein.

Sie nahm Anteil an privaten Freuden und Sorgen aller Mitarbeiter; sie war immer bereit zu helfen, was gelegentlich auch eigenes Risiko einschloss. Und nicht zuletzt: Sie hatte Humor und konnte stilvoll feiern. Ihr Vermächtnis ist in dritter Generation ihrer Nachfolger bewahrt, ihr Name lebt im ILSE-KRAUSE-NACHWUCHSPREIS unserer Gesellschaft fort.

Ilse Krause starb mit 67 Jahren, am 16.09.1984, in Berlin. Ihr Grab befindet sich in Luckau. Zu ihrer Hinterlassenschaft gehört ihre nachwirkende Einstellung zum Leben und zum Menschen. 

 

Kurt Gdanietz, Götz Borgwardt